Artikel aus dem Migros Magazin "Brückenbauer"
Ausgabe 23 vom 06.06.2017
«Die meisten halten ein freies Wochenende kaum aus»
Der Psychologe Marc Wittmann erforscht seit 20 Jahren die Zeit. Wie nehmen wir sie wahr, wo wir doch kein «Zeitorgan» haben? Der Zeitforscher erklärt, warum die Zeit mal schnell, mal langsam vergeht – und warum wir die «leere Zeit» immer sofort mit etwas füllen.
Interview: Monica Müller, Dinah Leuenberger Bilder: Kostas Maros
Marc Wittmann, wir haben eine Stunde Zeit für dieses Gespräch. Scheint Ihnen das kurz oder lang?
Wenn wir ein interessantes Gespräch haben und uns darin quasi verlieren, wird die Zeit ganz schnell vergehen. Wird es eher zäh, kann es sich ganz schön lange hinziehen.
Warum vergeht Zeit manchmal so schnell – und dann wieder ganz langsam?
Das hängt davon ab, ob wir auf die Zeit achten oder nicht. Wenn wir mit irgendwas beschäftigt sind, das uns unglaublich interessiert, achten wir nicht auf die Zeit. Das kann ein Gespräch sein oder ein spannender Film, das kann aber auch der Flow beim Jogging sein. Dann vergeht die Zeit ganz schnell, weil wir uns selbst und auch die Zeit nicht bemerken.
Wie nehmen wir die Zeit überhaupt wahr?
Im Gehirn gibt es eigene Areale fürs Sehen, Hören und Riechen, aber nicht für die Zeit. Ich gehe deshalb davon aus, dass wir die Zeit über das Körperbewusstsein wahrnehmen. Es generiert unser Gefühl von uns selbst. So wie wir jetzt dasitzen, spüren wir unsere Körperlichkeit. Wir merken, wie wir auf einem Stuhl sitzen, vielleicht juckt uns irgendwas, oder wir haben Durst, es ist uns heiss oder kalt. All diese Körpersignale werden im insularen Kortex im Gehirn aufgefangen. Dieser Bereich ist aktiv bei der Zeitwahrnehmung. Das Selbsterlebnis generiert demnach auch das Zeiterlebnis.
Befragt man 15 Zeitforscher, bekommt man 20 Theorien, haben Sie mal gesagt. In welchen Kernthesen widersprechen die sich denn?
Es gibt so viele Zeittheorien wie Hirnareale. In Lehrbüchern über das Sehen, die Motorik oder das Gedächtnis gibt es stets Übereinstimmungen. Nicht so in der Zeitforschung: Die Ansichten und Theorien der Forscher liegen hier weit auseinander. Meine These ist einfach eine von vielen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es für die Zeit kein eigenes Organ gibt und sie sehr subjektiv erlebt wird.
Wenn wir in den Ferien sind, haben wir das Gefühl, wir hätten mehr Zeit. Warum?
Wir reden von verschiedenen Zeiten. Einerseits erleben wir die Zeit jetzt, in diesem Moment. Wir warten auf den Bus, den Zug oder einen Anruf. Die Liebste meldet sich nicht, und ich warte und warte. In einer solchen Situation dehnt sich die Zeit, weil alles im Moment passiert. Ferien dagegen sind eine längere Zeitspanne. Ich bin zum Beispiel am ersten Abend am Ferienort im Hotel und denke darüber nach, wie ich am Morgen noch zu Hause war und dann in den Flieger gestiegen bin. Seither habe ich viel Neues erlebt. Ich habe den Ferienort erkundet, eine neue Sprache gehört und unbekannte Gerüche gerochen. Weil ich das alles im Gedächtnis habe, dehnt sich die Zeit rückblickend.
Also im Moment selbst fühlt es sich gar nicht länger an, sondern erst wenn wir uns später darüber Gedanken machen?
Genau. Und dann passiert auch das typische Ferienphänomen: Die ersten Tage kommen mir ganz lange vor, weil alles neu ist und ich viel entdecke. Aber mit der Zeit gewöhne ich mich wieder an die neue Situation, und plötzlich vergehen die Tage auch wieder schnell. Weil die Gedächtnisinhalte mit der Zeit nichts Besonderes mehr darstellen.
Erklärt das auch, weshalb ältere Menschen das Gefühl haben, die Zeit vergehe schneller?
Genau. Im Jugendalter erlebt man so viel Neues, man verändert sich stark. Mit 13 ist man noch ein Kind, mit 17 schon fast erwachsen. Dazwischen liegen nur vier Jahre. Jetzt vergleichen Sie mal diese vier Jahre mit dem Abschnitt zwischen 36 und 40: Da kann ja gar nicht so viel passieren. Hinzu kommt die Routine. Auch wenn wir zum zwanzigsten Mal in ein neues exotisches Land fahren, passiert es halt schon zum zwanzigsten Mal. Diese Erstmaligkeit aus der Jugend können wir nicht mehr zurückholen. Das erste Mal allein ohne die Eltern in die Ferien. Der Auszug aus dem Elternhaus, der erste Job, das erste selbst verdiente Geld – all diese Dinge erlebt man mit 40 nicht noch einmal.
Aber es passiert doch auch später Neues: die ersten Schmerzen, die ersten Probleme mit den Teenagerkindern?
Klar, man kann also auch später noch die Erstmaligkeit erleben, auch mit 80. Aber insgesamt hat man dann nicht mehr dieselbe Erlebnisfähigkeit, wie man sie als 17-Jähriger hatte. Ich ging zum Beispiel Ende 30 für fünf Jahre nach San Diego. Das erste Jahr kam mir unglaublich lang vor, ich habe daran auch noch ganz viele Erinnerungen. Aber danach ist die Zeit immer schneller vergangen.
Erste Male setzen sich also stärker im Gedächtnis fest?
Überraschendes, Emotionales – das sind die Dinge, die wir im Gedächtnis behalten. Es gibt auch Untersuchungen zu unseren ersten Erinnerungen. Das geht oft etwa im vierten Lebensjahr los – und es sind häufig Schrecksituationen. Meine erste Erinnerung stammt aus dem Kindergarten. Da kam plötzlich ein riesiger Boxerhund reingelaufen und hetzte auf uns zu – wir Kinder rannten in Panik weg.
Unsere Generation hat mehr Freizeit als je zuvor, wir haben viele Geräte, die uns die Arbeit abnehmen, uns also Zeit verschaffen sollten. Weshalb sind die meisten Menschen trotzdem gestresst?
Das beste Beispiel dafür ist die Waschmaschine. Früher hat die Hausfrau stundenlang die Wäsche gekocht und geknetet, heute schmeisst sie sie einfach in die Maschine, Deckel zu, Knopf an. Jetzt könnte sie sich eigentlich aufs Sofa setzen oder etwas lesen. Aber das macht sie natürlich nicht, weil es bereits etwas anderes zu tun gibt. Wir füllen die neue Freizeit immerzu mit neuen Tätigkeiten.
Warum?
Dazu gibt es keine exakten Untersuchungen. Ich glaube, wir halten die Freizeit, die leere Zeit, nicht mehr so gut aus. Das merkt man etwa im Bus. Kaum sind die Leute eingestiegen, zücken sie ihr Handy, statt einfach mal die fünf oder zehn Minuten Busfahrt für sich zu nutzen, nachzudenken, auszuatmen. Sie müssen sich schon wieder ablenken. Dasselbe passiert, wenn der Zug zehn Minuten zu spät kommt. Um Gottes willen! Diese zehn Minuten machen die Menschen nervös. Weil wir es nicht mehr gewohnt sind, Wartezeiten zu erleben. Wir geraten in Panik, wenn der Akku des Smartphones leer ist, weil wir uns dann mit uns selbst beschäftigen müssen.
Wie subjektiv ist Stress?
Da geht es um den ständigen Abgleich von den Anforderungen der Umwelt auf mein eigenes Können. Ein Beispiel ist die Prüfungsangst: Die eine Person setzt sich hin und lernt, die andere bekommt Albträume und Schweissausbrüche. So ist es auch beim Zeitstress. Wir bekommen von aussen laufend Aufgaben. Der eine bleibt damit gelassen, der andere nicht. Das ist sehr von der Persönlichkeit geprägt.
Gibt es einen Trick, wie man mit Zeitstress umgehen kann?
Es gibt ja diese Zeitmanagementbücher – von denen halte ich allerdings nicht so viel. Denn wenn wir die lesen, tun wir schon wieder etwas, das uns die Zeit wegnimmt. Das Wesentliche ist der eigene Umgang mit Stress. Man sollte lernen, gelassen auf Stressfaktoren zu reagieren. Oft hilft es, wenn man sich im stressigsten Moment aus der Situation ausklinkt. Einmal um den Block geht, die Luft und sich selbst spürt. So dehnt sich die Zeit, vergeht wieder langsamer. Man kann sich ordnen und merkt, dass man wieder mehr Zeit hat – und fühlt sich sogleich besser.
Erklärt das auch den Erfolg von Yoga und Meditation?
Ja, diese ostasiatischen Gelassenheitsübungen sind gute Instrumente für den Umgang mit Stressfaktoren und auch bei Wissenschaftlern beliebt. In den letzten zehn Jahren wurden die Mechanismen intensiv erforscht: Weil wir alle stark von aussen getrieben sind, geraten wir schnell in einen Autopilot-Modus, und durch das ständige Müssen erleben wir keine Eigenzeit mehr, nur noch Zeitstress. Durch mehr Gelassenheit oder Achtsamkeit können wir Zeit und auch uns selbst besser fühlen. Das führt zu mehr Entspannung.
Dann wäre so ein Zeitfenster, in dem man zehn Minuten auf den Zug warten muss, eine grossartige Gelegenheit, Gelassenheit zu üben?
Genau. Der Fachausdruck dafür heisst kognitives Umstrukturieren. Das heisst, wenn ich im Supermarkt an der Kasse stehe, denke ich nicht «Boah, jetzt ist die Schlange wieder so lang!», sondern ich sage mir: «Endlich habe ich mal Zeit!»
Warum packen wir so viel in unsere Freizeit?
Die meisten halten ein freies Wochenende kaum aus. Lieber planen sie einen Ausflug mit dem Mountainbike, abends Kino, Freunde treffen – und auch der kommende Tag muss bereits verplant sein, um die Leere zu füllen. Allerdings kann das auch ins Gegenteil kippen, wenn man nämlich alles nur noch schnell und hektisch abhakt, denn so erlebt man nichts intensiv. Das richtige Verhältnis ist entscheidend, also eine Mischung aus Langeweile, Zeitdehnung und Aktivität.
Ist es auch für Sie eine Herausforderung, die Zeit richtig einzuteilen?
Natürlich. Das ist wie beim Priester, der das ewige Leben predigt und trotzdem Angst vor dem Tod hat. Oder der Paartherapeut, der sich in Scheidung befindet: Wenn es um einen selbst geht, ist man von diesen Dingen genauso betroffen wie alle anderen auch.
Womit beschäftigen Sie sich derzeit in Ihrer Forschung?
Mit Zeitlosigkeit. Erfahrenen Meditieren kommt eine Stunde Meditation wie eine Minute vor. Sie können das Gefühl des Selbst-und des Ich-Erlebens und damit auch das Zeiterleben verlieren. Anfänger dagegen langweilen sich: Sie sitzen in einer komischen Position. Es passiert nichts. Die Gedanken schweifen umher, die Zeit dehnt sich.
Sie haben vorhin den «Flow» erwähnt, einen Zustand, in dem man sich gar nicht mehr spürt. Warum fühlt sich das so gut an?
Marathonläufer berichten vom Moment, in dem sie sich selbst und den Schmerz spüren, das Atmen und alles wehtut. Überwinden sie diesen Moment, spüren sie sich nicht mehr, fliegen nur so dahin und verspüren einen Flow. Viele Studien zeigen: Der totale Ich-Bezug macht nicht besonders glücklich. Wir sind entspannter, wenn die Ich-Orientierung durchbrochen wird. Das merken wir bei allen möglichen anspruchsvollen Tätigkeiten wie auch bei der Meditation oder dem Musizieren. Sind wir bei einer Tätigkeit so absorbiert, dass wir uns nicht mehr spüren, kommen wir in den Flow. Der Verlust des Ich-Gefühls führt dazu, dass wir uns besser fühlen.
Empfinden Sie manchmal auch Melancholie, weil die Zeit so schnell vergeht?
Ja klar. Der Rückblick auf die Vergangenheit ist immer etwas Ambivalentes. Manchmal ist es Melancholie über das Vergangene, die «temps perdu», manchmal ist es durchaus auch ganz schön, wenn man viele interessante Sachen erlebt hat und zurückblickt. Die Vergangenheit lässt sich zwar nicht ändern, der subjektive Umgang mit ihr aber schon. Ich will nicht behaupten, diesbezüglich nun enorm kompetent zu sein, aber ich beschäftige mich damit, dass man das Vergangene umdeuten, umlernen und eine andere Perspektive darauf entwickeln kann.
Verlangsamt man so auch das Vergehen der Zeit?
Wir konnten in einer Studie zeigen, warum man mit fortschreitendem Alter die letzten zehn Jahre des Lebens als schneller verlaufend erlebt, und zwar über verschiedene Kulturen und Sprachregionen hinweg. Im Zentrum steht die Gefühlskontrolle: Man sollte Emotionen leben können, ihnen aber nicht hilflos ausgeliefert sein. Für Leute, die ihre Gefühle besser kontrollieren können, sind die letzten zehn Jahre langsamer vergangen. Wer nicht überschiessend liebt oder hasserfüllt ist, erlebt mehr emotionale Nuancen, die im Gedächtnis abgespeichert werden. Entsprechend kommt ihnen die Zeit rückblickend als langsamer vergehend vor.
Was möchten Sie noch erforschen?
Ich möchte die anderen Zeitforscher von meiner Theorie überzeugen. Es wäre das Schönste, wenn wir Zeitforscher einen Konsens fänden und sich dabei herausstellte, dass das, was ich sage, auch stimmt.
Unser Gespräch hat genau eine Stunde gedauert. Wie lange hat es sich angefühlt?
Es hat sich relativ lange angefühlt und war trotzdem angenehm. Eine wohlige Dehnung der Zeit.
MM